Coverstory

Cool to be Kind

mit

Lily Aldridge

Sie wird oft als eines der nettesten Models der Branche beschrieben. Doch LILY ALDRIDGE sagt, der Job wäre nicht immer so leicht für sie gewesen. NATALIE EVANS-HARDING trifft die Frau, die in mehr als nur einer Hinsicht am Aufstreben ist.

Foto Alexander SaladrigasStyling Helen Broadfoot
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Oberes Bild: Jacke und Hemd: Saint Laurent; Jeans: Goldsign; Stiefel: Haider Ackermann; Halskette: Versace; Gürtel: Rag & Bone. Dieses Bild: T-Shirt: Saint Laurent; Shorts: MiH Jeans; Stiefel: Chloé; Hut und Cowboykette: Stylists eigene; Gürtel: Prada; Schal (ums Handgelenk): Chan Luu.

„Du bist das netteste Model, mit dem ich je gearbeitet habe“, ruft die Stylistin Lily Aldridge zu, während sie mit ihr durch die Garderobe stöbert. Es ist wahr, auch bei diesem Covershoot gibt sich Aldridge zuckersüß. Solche Kommentare wird sie wahrscheinlich sehr häufig hören. Bereits nach einem Shoot hat sie sich mit der ganzen Crew bekannt gemacht, ihnen die Hot-Spots für die besten Brathähnchen der Stadt anvertraut und allen die Honky Tonk Musik-Bar ihrer Heimatstadt Nashville, Tennessee zum Feiern nahegelegt. Denn in dieser Stadt, in Nashville, führt Aldrige, um es mit ihren Worten auszudrücken, „ein gesundes, bescheidenes Leben“.

Aldridges Welt steckt voller Kristalle, Weihrauch, Meditation und Selbstheilung. Ihr Leben verkörpert den Wellness-Geist des 21. Jahrhunderts, mit täglichen Dankbarkeitsmantras, in denen sie schriftlich die Ereignisse des Tages festhält – das heutige wird sich auf dieses Shooting beziehen, aber natürlich erst nachdem „Kuscheln mit meiner Tochter heute Morgen“ aufgeschrieben wurde. Nachdem sie ihre Tochter Dixie, fünf, für die Schule zurechtgemacht hat (ihre Lieblingsbeschäftigung), nimmt sich Aldridge Zeit zum Trainieren – sie ist ein hingebungsvoller „Ballet Beautiful Fan“ und sie erwähnt bei zahlreichen Gelegenheiten, wie sehr sie das Training liebt. Sie spielt auch mit der Idee, einen Buchclub zu gründen, da sie eine begeisterte Leserin mit Vorliebe für Fantasy-Romane und alles, was mit dem Zweiten Weltkrieg zusammenhängt, ist. („Ich habe jedes Buch über den Zweiten Weltkrieg gelesen – von Winston Churchill bis hin zu allen Romanen, die in dieser Zeit spielen. Ich bin einfach gefesselt von der Geschichte, von so vielen verheerenden Schicksalen, die sich in einem bestimmten Zeitrahmen überall auf der Welt abgespielt haben.“) Außerdem versuche sie, jedes Jahr den Roman des Pulitzer-Preisträgers zu lesen, und in diesem Jahr wird sie The Underground Railroad mit auf den Familienurlaub in die Karibik nächste Woche begleiten.

„Meine Karriere lief wirklich langsam an. Ich wurde anfangs als ‚kommerziell‘ und dadurch als für Fashion oder provokante Shootings ungeeignet eingestuft. Aber ich wollte Teil dieser magischen Sets sein.“

Hemd: Givenchy; Hut: Stylists eigener.

Wenn sie nicht gerade um die Welt fliegt, lebt Aldridge zusammen mit ihrem Ehemann, Kings of Leon Frontmann Caleb Followill, in Nashville. Gerne sitzt er an ihrer Seite und schreibt Songtexte oder kreiert in der Küche kulinarische Köstlichkeiten, während sich Aldridge den wissenschaftlichen Experimenten von Tochter Dixie widmet; das kann alles von Versuchen mit Schleim bis hin zur Erstellung von Vulkanen sein. „Meine Tochter ist meine beste Freundin und die einzige Person, mit der ich gerne abhänge. Wir gehen oft zusammen in den Park, weil es dort ein großartiges Wissenschaftszentrum gibt. Sie liebt Naturwissenschaften einfach“, strahlt das Model.

Aber bei all den Gefühlen von Dankbarkeit und Erfüllung und der Schilderung des perfekten Lebens, das zugegebenermaßen einen gewissen Neidfaktor mit sich bringt, lässt sich auch eine dunklere Realität erkennen. Aldridge begann mit 16 Jahren zu modeln und war im Laufe der Jahre einiger ungebetener persönlicher Kritik ausgeliefert: von der Paparazzi-Kultur und den negativen Kommentaren auf Online-Plattformen über Beurteilungen der Modebranche bis hin zur eigenen Selbstkritik an dem Versuch, den Spagat zwischen Karriere und Mutterschaft zu meistern. Das würde wohl jeden von uns verunsichern, aber es scheint, Aldridge habe nun mit 32 Jahren ihre Balance gefunden, ihrer Stimme Gehör veschafft und sich glücklich von einigen ihrer Bedenken gelöst.

„Ich bin nicht die Art von Person, die mit Kommentaren und Meinungen um sich wirft“, gibt sie zu verstehen. „Aber ich wurde von den Studenten (die vor kurzem zur Waffenkontrolle in den USA das Wort ergriffen haben) inspiriert“, sagt sie und stochert in ihrem Salat, während die Vögel im Hintergrund zwitschern. „Ich möchte keine Angst mehr haben, meine Meinung zu äußern.“

Hemd und Jeans: Calvin Klein 205W39NYC.

Seit Kurzem zeigt sich Aldridge in den Social-Media-Accounts von einer neuen Seite und greift aktuelle und heiß diskutierte Themen wie #MarchForOurLives oder #MeToo auf. „Ich kam erst spät zu den sozialen Medien. Mir ist meine Privatsphäre heilig, deshalb achte ich sehr genau darauf, was ich über mich poste; dabei dennoch authentisch und offen zu sein ist ein schwieriger Balanceakt“. Sie zuckt mit den Schultern. „Jeder hat Meinungen und Urteile …“ Ihre Lösung, sich von anderen nicht beeinflussen zu lassen, bestand darin, Kommentare im Idealfall nicht zu lesen. „Leute kommentieren mich oft sehr negativ. Ich erinnere mich noch sehr gut daran, als ich von Paparazzi zum allerersten Mal abgebildet wurde. Ich konnte nicht glauben, dass jemand überhaupt wusste, wer ich war, und dachte: „Oh mein Gott!“ Aber als ich dann las, was die Leute über mich sagten, verlor ich allen Mut. Sie sagten diese schrecklichen Dinge; schreckliche, schreckliche Dinge über einen Frauenkörper. Ich bin doch einfach nur die Straße entlanggegangen! Das war meine erste derartige Erfahrung und sie hat meine Einstellung zu der Tatsache, dass Fotos von mir gemacht werden, komplett verändert. Du fragst dich, welche Motive der Fotograf wohl haben mag und was die Leute sagen werden … Je älter ich werde, desto mehr versuche ich, es einfach nicht persönlich zu nehmen, aber daran arbeite ich nach wie vor. Ich antworte nie auf Kommentare, aber manchmal würde ich es so liebend gerne tun!“

Stärke bezieht Aldridge zweifelsohne aus ihren engen Freundschaften mit anderen Models. Mit vielen traf sie sich im vergangenen Monat auf der Oscar-Party von Vanity Fair: „Ich bin lediglich über den roten Teppich gelaufen und dann sofort rein, um alle meine Freunde zu finden. Denn wissen Sie, irgendwie ist es eine seltsame Situation: Du gehst hin und denkst, du würdest jeden kennen, aber dem ist nicht so. ‚Oh, hi! … Nein, ich kenne dich nicht wirklich, Tom Hanks … Ich denke das nur, weil du mich mein ganzes Leben auf dem Bildschirm begleitet hast!‘ Ich hielt mich einfach an meine kleine Modelgruppe und wir beobachteten das Geschehen!“

Aldridge sagt, Gigi Hadid sei die Beste für Gespräche unter Frauen, Alessandra Ambrosio und Joan Smalls die besten Freundinnen zum Feiern, von Karlie Kloss’ positiver Einstellung lasse sie sich gerne inspirieren und sie schwärmt von Behati Prinsloos Street-Style-Looks; Adriana Lima bewundere sie hingegen für deren eisernen Willen zu trainieren und Doutzen Kroes für ihre Fähigkeit, Mutterschaft und Modeln so mühelos unter einen Hut zu bringen. Karen Elson ist ihr Guru in Sachen Jobkultur. Elson machte sich für sie stark, als sie nur schwer in der Industrie Fuß fassen konnte und nicht für High-Fashion-Shoots gebucht wurde. „Meine Karriere lief wirklich langsam an. Am Anfang machte es mich traurig, dass ich in der Modebranche nicht als ‚cool‘ wahrgenommen wurde; das machte mir schon zu schaffen. Wir alle haben unterschiedliche Facetten und ich wurde als ‚kommerziell‘ und dadurch als für Fashion oder provokante Shootings ungeeignet eingestuft Lange buchte mich keiner für diese Jobs, obwohl ich sie unbedingt wollte, denn ich liebe Mode und wollte Teil dieser magischen Sets sein. Karen hat mir wirklich geholfen, mich in diesem Bereich zu etablieren, indem sie mit all den einflussreichen Leuten sprach.“

Hemd: Calvin Klein 205W39NYC.

„Wenn mir etwas Schlimmes in der Branche angetan würde, würde ich es jedem erzählen. Ich würde nicht zulassen, dass dieselbe Person jemals wieder einer anderen Person etwas antut. Wir leben in einem neuen Zeitalter.“

Jacke: Goldsign; Tanktop: The Row; Jeans: Saint Laurent; Hut und Cowboykette: Stylists eigene; Gürtel: Magda Butrym.

Mit Behati Prinsloo und Candice Swanepoel sei sie jeden Tag in Kontakt. Sie senden sich gegenseitig Bilder ihrer Kinder und beraten sich in puncto Schulangelegenheiten. „Wir alle haben Kinder zu mehr oder wengier der gleichen Zeit bekommen und genießen dadurch eine starke Bindung – es ist eine wirklich nette Gemeinschaft von Modelmüttern. Ich bin so stolz darauf, Mutter zu sein, das ist ohne Zweifel die größte Errungenschaft in meinem Leben.“ Und Aldridge könnte sich gut ein weiteres vorstellen. „Die Branche hat sich meiner Meinung nach mittlerweile definitiv besser auf Mütter eingestellt. Aber auch wenn die Leute in der Fashionindustrie es nicht akzeptieren würden, wäre es mir egal, ich würde einfach sagen: ‚Bis später!‘“

Sie scheint jetzt ein entspanntes Selbstvertrauen entwickelt zu haben und den Druck der Branche gelassen von sich abprallen zu lassen. „Es ist nun schon eine Weile her, seit ich nach der Geburt wieder in Form kommen musste, aber keiner sollte dabei beurteilt werden, denn jeder Weg ist anders Natürlich verändert sich mein Körper, wenn ich älter werde, ich bin schließlich eine Frau, aber ich liebe es. Ich liebe es zu trainieren und ich liebe es gesund zu leben, aber ich bin da nicht so streng mit mir. Es ist mir mittlerweile egal, ob ich einen Sixpack habe oder nicht. Ich bin von all diesen unglaublichen Frauen inspiriert, die einen fülligeren Körperbau haben und sich nicht um Cellulite kümmern. Auch ich habe Cellulite und Dehnungsstreifen. Als ich jünger war, hätte ich gesagt: ‚Oh, ich brauche stärkere Bauchmuskeln‘; jetzt schaue ich zurück und denke mir: ‚Du warst verrückt! Deine Bauchmuskeln waren fantastisch!‘“

Als jedoch das Thema Machtmissbrauch in der Modelbranche zur Sprache kommt, wird Aldridge etwas vorsichtiger. Sie selbst habe keine #MeToo-Erfahrung, sagt sie, vielmehr unterstütze sie alle, die sich dazu äußern. „Ich werde immer eine Person bleiben, an die sich andere vertrauensvoll wenden können, wenn sie Hilfe brauchen“, sagt sie ernst. „Wenn mir etwas Schlimmes angetan würde, würde ich es jedem erzählen. Ich würde nicht zulassen, dass dieselbe Person jemals wieder einer anderen Person etwas antut.“ Sie habe das Gefühl, die Branche verändere sich. „Es ist ein neuer Tag und ein neues Zeitalter und ich hoffe, der Fortschritt setzt sich fort. Es gibt viele Menschen in der Branche, die sich für eine sicherere und transparentere Arbeitsumgebung einsetzen.“ Und wenn ihre Tochter Interesse am Modeln äußern würde? Würde sie sich unterstützend zeigen? „Ähm, ich würde sie definitiv dazu ermutigen, Wissenschaftlerin zu werden“, sagt sie mit einem schmunzelnden Lächeln.

Jacke, Hose und Stiefel: Chloé; Top: Goldsign; Hut und Cowboykette: Stylists eigene.